Leseprobe „Tod von oben“

 

Gerhard Prange ist als Fallschirmagent in der Nähe von Den Haag gelandet. Er wird gefasst, aber seine persönliche Beziehung zum Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart bewahrt ihn vor der Hinrichtung. Zum Schein geht er auf das Angebot ein, mit den Deutschen zusammenzuarbeiten. Der Mitarbeiter der Spionageabwehr, der sich um ihn kümmern soll, ist Richard Christmann.

 

Als Gerhard am Morgen in die Dienststelle kam, lag auf seinem Schreibtisch eine Ausgabe der Het Parool vom 17. Juni 1942. Christmann verfügte über seine V-Leute über Beziehungen zum Untergrund, und er schaffte es fast immer, die illegalen Zeitungen zu besorgen. Aufgeschlagen hatte er die Seite 5, auf der er einen kleinen Artikel rot umrandet hatte:

 

 

Der größte Bluthund aus Himmlers SS-Bande, sein Unterbefehlshaber Heydrich, wurde auf das tschechische Volk losgelassen und hat dort als ein tierisches Ungeheuer gewütet. Mit einigen Revolverschüssen haben ihm zwei tschechische Patrioten ein Ende bereitet. (...) Heydrich hat jetzt das Schicksal ereilt, das auch auf all die anderen Tyrannen wartet. Auch sie werden so fallen ...

 

 

Von dem Anschlag auf Heydrich hatte Gerhard natürlich schon gehört.

 

 

»Auch die anderen werden so fallen«, sagte jemand hinter ihm. Gerhard fuhr herum. Er hatte nicht gehört, wie Christmann hereingekommen war. »Dein Freund Seyß-Inquart könnte der Nächste sein!«

 

 

»Er ist kein Bluthund«, widersprach Gerhard.

 

 

»Bist du dir da so sicher?«

 

 

Gerhard hielt es nicht für nötig, auf diese Frage zu antworten.

 

 

»Ich habe noch etwas anderes für dich«, sagte Christmann. Er legte ein Foto auf den Tisch.

 

Das Bild zeigte einen Toten, dessen Gesicht vollkommen zerschmettert war. Nur die Kleidung ließ darauf schließen, dass es sich überhaupt um einen Menschen handelte.

 

 

»Das ist ja grauenvoll! Warum zeigst du mir das?«

 

 

»Damit du weißt, wie das Spiel läuft, Gerhard. Dies ist Hauptmann Hueting ...«

 

 

Gerhard erschrak.

 

 

»Er war Mitglied vom Ordedienst. Du hast vom Ordedienst gehört?«

 

 

»Eine Widerstandsgruppe.«

 

 

»Eine ehemalige Widerstandsgruppe. 72 Mitglieder sind am 3. Mai im KZ Sachsenhausen getötet worden. Man hat ihnen nicht den Schädel eingeschlagen, wie du nach dem Foto vielleicht denken könntest, sondern man hat sie durch Genickschuss erledigt, einen nach dem anderen. Lauter Idealisten, genau wie du. Nicht durch unsere glorreiche Polizei zur Strecke gebracht übrigens, sondern durch Verrat. Es waren zwei Niederländer, die ihre eigenen Landsleute ans Messer geliefert haben. Du wirst sie noch kennenlernen. Schreieder arbeitet gern mit den beiden zusammen.«

 

 

»Warum muss ich das sehen?«

 

 

»Damit du weißt, auf was du dich eingelassen hast. – Ach ja, selbstredend hätte dein Onkel Arthur dieses Massaker verhindern können. Er hat es nicht getan. Er hat auch nicht eingegriffen, als am 11. Mai vierundzwanzig weitere OD-Mitglieder auf dieselbe Weise getötet worden sind. – Wirklich kein Bluthund?«

 

Gerhard schwieg.

 

 

»Du bist ein Idealist, Gerhard. Aber Idealisten sind in diesem Geschäft fehl am Platze.«

 

 

»Ich glaube an die Moral. Ich glaube daran, dass es ein Gewissen gibt. Und was das Gewissen einem diktiert, das muss man tun.«

 

 

Christmann schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Moral, Gerhard. Nicht in unserem Beruf. Und was du als Gewissen bezeichnest, das kannst du vergessen. Seit dem Augenblick, in dem du dich als Agent hast anwerben lassen, warst du verloren. Ich könnte sagen, in dem Augenblick hast du deine Seele dem Teufel übergeben – wenn es denn einen Teufel geben würde. Und eine Seele.«